Die Schriftmeditation hat in der Kirche eine lange Tradition und wurde insbesondere mit der Lectio Divina im Benediktinerorden systematisiert und unterteilt in Lectio, Meditatio, Oratio und Contemplatio, d.h. Lesung, Meditation, Gebet und Kontemplation. Alle vier Praktiken kann man voneinander unterschieden, gehen aber auch fließend ineinander über.
Das Wort Meditation leitet sich vom lateinischen Tätigkeitswort "meditari" ab, was so viel bedeutet wie "nachdenken" oder "sich auf etwas besinnen". Diese Besinnung eines Textes geht über das rein analytische Nachdenken hinaus. Es bedeutet vielmehr sich mit all seinen Sinnen in den Text hinein zu versetzen und unterschiedlichste Sichten und Wahrnehmungen auf sich wirken zu lassen. Der Begriff Meditation wird unterschiedlich definiert und teilweise mit Kontemplation gleichgesetzt. In der christlichen Praxis hat Meditation den Charakter von über etwas zu meditieren bzw. über etwas nachzudenken und zu besinnen, während Kontemplation ein zur Ruhe kommen der Gedanken darstellt. Im höchsten Sinne ist die Kontemplation das Einswerden mit Gott selbst. Die Alten haben gesagt, dass man nur Lectio, Meditatio und Oratio üben kann und die Contemplatio ein Geschenk ist.
Einspüren in den Ort und in die handelnden Personen
Reinhard Deichgräber, Evangelische Kirche, beschreibt folgende 4 Schritte der Textmeditation, die im Wesentlichen beinhalten, sich in die Handlung einzuspüren und verschiedene Perspektivenwechsel vorzunehmen.
1. Einen biblischen Text zu meditieren beginnt damit ihn laut zu lesen. Dabei spürt man sich in jeden Satz und in jedes Wort ein und auf das, was es in einem auslöst.
2. Im zweiten Schritt spüren wir uns mit allen Sinnen in den Text ein, d.h. Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen. Jedes Detail stellt man sich bildlich bzw. sinnlich vor, inklusive den Gerüchen usw. und lässt dies auf sich wirken.
3. Im dritten Schritt identifiziert man sich mit jeder handelnden Person und versucht sich in deren Gedanken, Gefühle und Motive hinein zu versetzen, auch in die von Jesus. Dies erfolgt in der Art "Ich bin …".
4. Im vierten Schritt versucht man die wesentliche Botschaft herauszufinden und dann in ihr zur Ruhe zu kommen. Damit ist der Grund gemeint warum diese Geschichte erzählt wurde und worauf die Handlung letztlich zuläuft. Hierzu findet sich vielleicht ein prägnanter Satz in der Geschichte. Diese Kernbotschaft kann man mehrere Male wie eine Mantra wiederholen und kommt letztlich in ihr zur Ruhe, was den Übergang zur Kontemplation darstellt.
Anselm Grün, Benediktinerorden, schreibt folgende prägnante Worte über die Lectio Divina:
"Die Lectio Divina geht so: Ich lese in der Schrift, bis mich das Wort anrührt, halte inne, lasse es ins Herz fallen, bete, lese weiter, bis ich das Gefühl habe, die Worte haben mich in eine tiefe Stille geführt. Dann lasse ich die Worte und bin einfach still vor Gott. Die Worte haben mich in die Stille geführt."
Die Alten haben Bilder für die lectio devina. Sie sagen: die lectio bricht das Alabastergefäß Gottes auseinander, die meditatio riecht daran, empfindet den Duft, die oratio drückt die Sehnsucht aus und die contemplatio genießt es dann.
Evagrius Ponticus
sagt einmal: "Wer für eine Methode kämpft, der kämpft vergebens". Die frühen Mönche haben deswegen Wege der Meditation und Kontemplation entwickelt, auf denen nicht die Methode heilt und sondern immer der heilende Gott, der durch das Wort der Schrift uns begegnet."
Herausarbeiten verwendeter Symbole und Perspektivenwechsel auf den Mikrokosmos, den Makrokosmos, die Seele und den spirituellen Pfad
Biblische Erzählungen enthalten in der Regel Botschaften auf verschiedenen Ebenen, die nicht sofort beim flüchtigen Lesen deutlich werden. Die äußeren Bedeutungen sind für das allgemeine Publikum bestimmt; der Apostel Paulus hat diese auch Kinder genannt. Hier werden Glaubensinhalte transportiert, die dazu helfen Gläubige auf einer Anfängerstufe abzuholen und weiter zu bringen. Für die Brüder und Perfekten sind die fortgeschrittenen Lehren gedacht. Das ist was Paulus meinte mit, man soll keine Perlen vor die Säue werfen und das erklärt, warum Jesus sich mit seinen Jüngern in ein Haus zurückzog, um seine Gleichnisse zu erklären.
Man darf die symbolische Auslegung nicht übertreiben. Die Gnostiker im frühen Christentum sind hier manchmal zu weit gegangen und dadurch teils zu Recht in die Kritik geraten. Es kommt darauf an, dass man die Intention des Autors herausfindet, ohne zu viel hinein zu interpretieren. Aus der allegorischen Auslegung der Bibel ergeben sich Perspektivenwechsel. Zum Beispiel steht das Leben Jesu Christi als Beispiel für die eigene spirituelle Entwicklung. Jede Station im Leben Jesu ist ein weiterer Schritt zum Ziel der geistlichen Entwicklung. Ein überraschendes Beispiel hierfür ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Wer die Gegebenheiten im Heiligen Land etwas kennt, der weiß, dass man durch Samarien reisen muss, um von Galiläa nach Jerusalem zu gelangen. Jerusalem steht hier für die himmlische Weisheit und der Samariter für die Barmherzigkeit. Wer also zur Weisheit gelangen will, der muss die Barmherzigkeit in sich entwickeln.
Wenn in einem Gleichnis ein Vater in Erscheinung tritt, z.B. beim Gleichnis vom verlorenen Sohn, dann ist damit normalerweise Gott gemeint. Gott kann betrachtet werden als der Schöpfer der Welt oder eine innere Instanz im Menschen, quasi das höchste Potenzial im Menschen. Paulus spricht ja auch vom „Jesus in uns“. Gott kann also auf der Ebene des Makrokosmos agieren oder des Mikrokosmos und im Innerseelischen.